Der Hunger nach Wissen treibt sie an
Für den Augenblick, in dem Pascale Hilberger-Kirlum wusste, dass ihr Berufsweg mehr für sie beinhalten würde als die reine und direkte Patientenversorgung, für diesen Augenblick muss man gedanklich in die Schweiz reisen.
Die gelernte Kinderkrankenschwester nahm mit ÄrztInnen und weiteren KollegInnen der Kinderanästhesie an einer interdisziplinär ausgerichteten Medizintagung teil – und staunte nicht schlecht. Denn hier waren sie: Pflegekräfte. Nicht allein unter den Teilnehmern, nein, sondern auch auf den Podien: Pflegefachpersonen, vorrangig Frauen, die die Ergebnisse ihrer Arbeit vorstellten. „Forschungsarbeit, in der Pflege!”, sagt Hilberger-Kirlum, und ihre Überraschung von damals schwingt heute noch in ihrer Erzählung mit. „Stellen Sie sich das vor: Forschung über Fragestellungen aus der ganz normalen Praxis. Diese Pflegefachfrauen hatten also empirisch Daten gesammelt über ihre Arbeit, etwa über das Wärmemanagement von Kindern nach der Narkose, und daraus Schlussfolgerungen gezogen und in die eigene Praxis übertragen.”
Hilberger-Kirlum ist sofort fasziniert. So lässt sich der eigene Beruf also auch angehen und gestalten. Nicht per „So haben wir das immer schon gemacht, so machen wir es weiter”, sondern reflektiert, beobachtend, analysierend. Auch: Wissen generierend, Wissen anwendend. „Ich wusste plötzlich: Das will ich auch.” 2010 schreibt sie sich in München berufsbegleitend für ein Studium der Pflegepädagogik an der katholischen Stiftungsfachhochschule (KSH) ein. 17 Jahre hatte sie da schon, die Ausbildungszeit nicht eingerechnet, in der Kinderkrankenpflege gearbeitet. „Ich liebte – und liebe – den Beruf als Kinderkrankenpflegerin, hatte ihn mir sorgsam ausgewählt”, sagt sie. Das Wort „Herzensbereich” fällt, wenn sie über ihre Zeit in den Kinderstationen spricht, doch sie betont gleichzeitig, dass so eine Zuschreibung im Kontext professioneller Pflege auch in die falsche Richtung weisen könne. Fest steht: Es waren der Wunsch nach Arbeiten mit Menschen, aber auch die gesuchte Verantwortung und Herausforderung, die sie als Abiturientin 1989 in die Pflege führten. Auch an den Beruf der Hebamme hatte sie zunächst gedacht, selbst mit einem Medizinstudium hatte sie geliebäugelt. „Was hätte ich damals schon gern Pflegewissenschaft studiert – aber die Möglichkeit gab es zu der Zeit bei uns in München noch nicht.” Und in der bayerischen Hauptstadt, ihrer geliebten Heimatstadt, wollte sie bleiben. Sicher, sie hätte Pflegemanagement studieren können. „Aber mit Pflegemanagement habe ich bis heute nicht viel am Hut”, sagt sie. Zu nah sei dieser Fachbereich an der Betriebswirtschaft, zu sehr mit ökonomischem Optimierungsdruck verbunden. Das sollen andere machen. Sie will die Pflege verstehen, verändern, verbessern, den Beruf der Pflege vorantreiben.
Das Studium wird zu einem Game-Changer. „Ich konnte förmlich dabei zusehen, wie sich mein Horizont täglich erweiterte”, sagt sie. Die erfahrene Kinderkrankenschwester kommt plötzlich mit neuen Theorien und Ideen in Berührung, kann ihren Wissenshunger stillen. Ihre Lieblingsmodule: Pflegewissenschaft, Ethik, Phänomenologie.
In unserer Serie „Gipfelstürmerinnen“ schildern wir, wie verschiedene Frauen ihren Weg nach oben geschafft haben. Jedes Porträt steckt dabei voller Anregungen für Frauen, die ähnliches planen. Jeden Monat stellt Ihnen das Frauennetzwerk TOP-Management Pflege eine Managerin aus der Community vor.
TOP Management Pflege: Habe ich das eben richtig verstanden: Phänomenologie?
Pascale Hilberger-Kirlum: Ja, ganz recht, die Lehre der Lebenswelten von Menschen.
Was faszinierte Sie daran – und welche Rolle spielt dieses Fach in der Pflege?
Pascale Hilberger-Kirlum: Für mich war das eine neue Welt, die mir vieles aus dem Arbeitsalltag plötzlich aufschlüsseln konnte: Welche Rolle spielen Lebenswelten von Kranken oder Pflegebedürftigen, welche Rolle spielt die Kommunikation oder die Atmosphäre? Ich habe das als so erhellend empfunden, als so hilfreich in einem Beruf, der ja nah am Menschen und in Beziehung mit Menschen wirkt, so sehr, dass ich auch heute noch sagen würde, dieses Fach gehört bereits in die grundständige Berufsausbildung.
Dass sich in der Pflege etwas verändern muss, diese Überzeugung hatte sich für Hilberger-Kirlum bereits in ihrem Berufsleben schleichend herausgebildet. Das Studium verfestigt ihre Überlegungen weiter. Bald geht sie auf erste Demos, will dafür streiten, dass es in der Pflege so nicht weiter geht. Will darauf aufmerksam machen, dass zum einen die Arbeitsbedingungen selbst besser werden müssen, doch dass hier, anders als etwa bei Fluglotsen oder PilotInnen, die ja auch für attraktivere Konditionen auf die Straße gingen, weit mehr dranhänge: die pflegerische Versorgung von Menschen nämlich. Ein Streiten für die Pflege sei immer auch ein Streiten für die Bevölkerung, sagt sie, für jeden Menschen, der einmal pflegerische Betreuung benötige, und hier nicht nur für die „Alten”, die ihrer Meinung nach zu oft im Fokus stünden, sondern auch für Kinder und Jugendliche. Auch für sie geht sie auf die Straße, mit advokarischem Ansinnen also.
Pascale Hilberger-Kirlum: Oh, was wurden wir da angeraunzt.
Top Management Pflege: Auf den Demos? Von wem?
Pascale Hilberger-Kirlum: Von Passanten!
Top Management Pflege: Aber warum?
Pascale Hilberger-Kirlum: Die fragten uns, durchaus mit aggressivem Unterton, was wir denn bitte hier machten. Wir sollten doch gefälligst zurück gehen in die Kliniken und Patienten versorgen, es gebe doch eh so wenig von uns. Und sie sagten, wir sollten lieber gegenüber den ÄrztInnen dafür sorgen, dass Patienten nicht so schnell aus den Kliniken entlassen würden. Die haben also ihren eigenen Frust über das Gesundheitssystem auf uns abgeladen. Aber das ist noch nicht alles: Ich habe auch schon erlebt, wie einige Passanten uns Demonstrantinnen ganz gezielt als Frauen diffamiert haben.
Top Management Pflege: Inwiefern?
Pascale Hilberger-Kirlum: Indem sie die Nase über uns rümpften, sagten, Frauen hätten nicht auf die Straße zu gehen und ihre Stimme zu erheben, Forderungen zu stellen. Da habe ich wieder gemerkt: Frauenrechte und Pflegeberufspolitik, das ist eng miteinander verknüpft.
Diesem Zusammenhang – zwischen dem Stand der Pflegeprofession und der Entwicklung der Frauenrolle in der Gesellschaft – ist sie schon im Studium auf die Spur gekommen. Hier liest sie das Buch „Die Care-Revolution – Schritte in eine solidarische Gesellschaft“, in dem die Sozialwissenschaftlerin und Professorin für Gender-Studies Gabriele Winker für einen grundlegenden Perspektivenwechsel in der Care-Arbeit wirbt. Auch die Dissertation von Eva-Maria Krampe, „Emanzipation durch Professionalisierung?“, beeinflusst Hilbergers Denken. Darin geht die heute in Frankfurt am Main lehrende Pflegeprofessorin der Frage nach, ob die Akademisierung des traditionellen „Frauenberufs Pflege” in den 1990er Jahren zu einer Professionalisierung des Pflegeberufs geführt hätte. Ihr Fazit: Eine Konfrontation und Auseinandersetzung mit der Medizin sei nicht erfolgt, die Pflege sei zu wenig in die politische Diskussion eingebunden worden, gerade die Pflegewissenschaft habe stattdessen die Nähe zum Diskurs der Ökonomisierung des Gesundheitswesens gesucht – und diesen damit auch unterstützt.
Das Studium eröffnet Pascale Hilberger-Kirlum den Blick in die Vergangenheit, „in das, was war, das uns aber auch zeigt, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind”, sagt sie. „Eine Voraussetzung dafür also, nun zu schauen: Wie machen wir es anders, und vor allem: besser?” Ihr wird bald klar: Was sie hier lernt, in diesem Pflegepädagogikstudium, kann sie doch sicher auch woanders einsetzen als in der Berufsbildung. Die „unbestellten Felder” interessieren sie, Job-Optionen abseits von Berufsschulen; und als der Bachelorabschluss naht, fragt sie gezielt bei ihrem Arbeitgeber, der Schwesternschaft München, nach.
Hilberger-Kirlum will ihre neuen Kenntnisse einsetzen. Aber auch ihr Kommunikationstalent, ihre rasche Auffassungsgabe, ihr trainiertes Können, selbst schwierige und komplexe Texte zügig zu begreifen, ihre Neugier auf Themen und Menschen. Ihr wird die Position der persönlichen Referentin der Generaloberin Edith Dürr angeboten. Sie macht eine dreitägige Schnupper-Hospitanz, stellt dabei fest, „dass in diesem Job sehr viel Berufspolitik steckt”, schon allein deshalb, weil die Verbandsvorsitzende selbst berufspolitisch stark engagiert ist – und sagt zu.
Seit knapp acht Jahren ist sie nun auf einem Posten, auf dem sie viel bewegen kann: Aus ihrer Stabsstelle Pflegepolitik heraus baut sie ein neues politisches Netzwerk auf, lädt Landespolitiker zu Gesprächen ein, diskutiert mit ihnen, gemeinsam mit der Generaloberin, die seit 2014 auch Vorsitzende des Bayerischen Landespflegerat ist, über die Umsetzung und Finanzierung der Pflegeberufereform und die Anerkennungsverfahren ausländischer Pflegefachpersonen, setzt sich unermüdlich für die Etablierung einer bayerischen Pflegekammer ein. Sie arbeitet sich durch Gesetzestexte und -entwürfe, setzt Schriften auf, an die Politik gerichtete Forderungspapiere, organisiert Demonstrationen. Parallel schreibt sie sich für ein Masterstudium der Pflegewissenschaft ein, erwirbt alle nötigen Creditpoints, lediglich der Abschluss der Masterarbeit steht noch aus. Sie soll sich mit dem feministischen Diskurs in der Pflege beschäftigen, so der aktuelle Stand.
Hilberger-Kirlum liebt ihren Beruf, das ist im Gespräch mit ihr spürbar. Doch sind ReferentInnenstellen, das bringt die Rolle mit sich, eng an die Person und Position gekoppelt, an deren Seite man tätig ist; die Pensionierung der heute 62-jährigen Edith Dürr ist, vielleicht noch nicht nah, doch mittelfristig absehbar.
Top Management Pflege: Die Frage sei also gestattet: Wo sehen Sie sich in fünf oder zehn Jahren?
Pascale Hilberger-Kirlum: Da kann ich mir vieles vorstellen: Vielleicht gehe ich noch mehr in die Lehre hinein, ich habe ja seit letztem Semester bereits einen Lehrauftrag an der Hochschule München, vielleicht gehe ich aber auch in die Forschung. Oder vielleicht eröffnet sich noch eine weitere spannende berufspolitische Position.
Top Management Pflege: In München müsste es aber schon sein?
Pascale Hilberger-Kirlum: Sicher in München, ich liebe meine Stadt, ich möchte nicht fort. Und wissen Sie: Die bayerische Politik ist einfach zu spannend, manchmal auch richtiggehend unterhaltsam, fast schon für sich genommen kabarettreif. Da will ich doch auch in Zukunft hautnah dabei sein.
Man kann sicher sein: Ihr wird es nicht langweilig werden. Sie wird sie finden, und sie wird sie beackern – die vielen „unbestellten Felder” der Pflege.
Text: Romy König
Bild: Canva
Zur Person
Pascale Hilberger-Kirlum bekleidet die Stabsstelle Pflegepolitik bei der Schwesternschaft München des Bayerischen Roten Kreuz e.V. und ist persönliche Referentin der Generaloberin (Vorstandsvorsitzenden) Edith Dürr.
Lesen Sie auch das Interview mit Pascale Hilberger-Kirlum auf pflegen-online!
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